Forschungsethik im Social Web – Bitte um Mitarbeit

Aus der Reihe: “Dinge, die ich noch von den ganzen Konferenzen und Workshops nachtragen sollte, die ich in den vergangenen Wochen besucht habe” – Teil 2

Im Vorfeld der GOR fand wie üblich die Mitgliederversammlung der Deutschen Gesellschaft für Onlineforschung (DGOF) statt, in der ich seit einigen Jahren Mitglied bin. Ich hatte relativ kurzentschlossen dieses Jahr den Vorschlag eingebracht, sich über forschungsethische Richtlinien für das Social Web Gedanken zu machen und hatte auch angeboten, die entsprechende Koordinierung in die Hand zu nehmen. Es folgt eine leicht abgeänderte Fassung meiner längeren Mail an die GIR-L Mailing-Liste; darin schildere ich auch, dass es nicht nur Sache der DGOF ist, sich über diese Dinge Gedanken zu machen. Ich hoffe deswegen auf rege Diskussion, die in die Formulierung solcher Richtlinien eingehen kann.

Kurzfassung für alle, die ungern lange Einträge lesen: Es ist wichtig, dass sich die Online-Research-Community zu den aktuellen forschungsethischen Fragen positioniert, die im Social Web entstehen. Wer Interesse an der Mitarbeit hat, möge mir bitte eine Mail schicken – je nach Rücklauf schaue ich dann, welche Form der Koordination (gesonderte Mailingliste, Forum, Wiki, …) geeignet erscheint.

Nun etwas ausführlicher zum Hintergrund: Am Hans-Bredow-Institut untersuchen wir in einem laufenden Forschungsprojekt zum Thema „Jugendliche und Web 2.0“ u.a. auch die Plattform schülerVZ. Bereits vor einigen Wochen wollten wir uns gerne einen ersten Eindruck von der Plattform verschaffen, stießen aber sofort auf ein Problem: Man kann dort nur auf Einladung eines bereits registrierten Nutzers Mitglied werden. Also sprach meine Kollegin eine befreundete Schülerin an, ob sie uns nicht eine Einladung zuschicken könnte.

Deren Reaktion war meines Erachtens bezeichnend – ein misstrauischer Blick, ein „Was wollt ihr denn da?“, vermutlich auch die Gedanken im Hinterkopf „Was habe ich dort für Bilder eingestellt? Will ich, dass die erwachsene Bekannte meiner Eltern die sieht?“. Sie schickte uns die Einladung zwar zu, doch dann stellte sich das nächste Problem: Wir hätten zwangsläufig eine Fake-Person erschaffen müssen, da das Höchstalter bei schülerVZ 20 Jahre beträgt, und man Schule und Klasse angeben muss.

An dieser Stelle entschieden wir, uns einstweilen nicht auf schuelerVZ anzumelden – aber die Frage blieb: Wie können und sollen wir als Forscher in einer Interaktionsumgebung wie schülerVZ auftreten? Auf welche Art können wir Informationen sammeln, ohne die Privatsphäre der Nutzer zu verletzen?

Die naheliegende Regel (die ich auch schon mehrfach von unterschiedlicher Seite gehört habe) wäre: „Wenn es im Internet steht, ist es öffentlich. Also dürfen wir die Daten auch verwenden.“

Nur: Im Social Web gibt es keine klare Trennung zwischen „öffentlich“ und „privat“; Profilinformationen auf SchülerVZ bspw. sind plattformöffentlich, aber eben nicht internetweit zugänglich. Hinzu kommt, dass viele Nutzer im Web 2.0 Inhalte für ein eingegrenztes Publikum von Freunden und Bekannten er- und bereitstellen, sich also an eher an eine „persönliche Öffentlichkeit“ denn an eine generelle Öffentlichkeit richten. Die Frage stellt sich deswegen nicht nur bei schülerVZ, sondern auch in anderen Bereichen des Web 2.0 / Social Web, und auch bei ganz unterschiedlichen methodischen Zugängen; exemplarisch seien genannt:

(1) (Teilnehmende) Beobachtung: Wann ist es geboten, sich als Forscher zu erkennen zu geben, der die Interaktionen auf einer Networking-Plattform untersucht? Gibt es Umstände, wo eine verdeckte Beobachtung angemessen, u.U. sogar erforderlich ist?

(2) Netzwerkanalysen: Wer muss zustimmen, damit Daten über das Beziehungsgeflecht in der Blogosphäre, in einem Wiki, auf einer Kontaktplattform durch Crawler automatisch erfasst und zur Analyse aggregiert werden dürfen? Der Plattformbetreiber? Die Nutzerschaft? Was ist in Fällen, wo ganz unterschiedliche Ansprechpartner existieren (z.B. eine Analyse des Netzwerks von Politblogs, die teils frei gehostet werden, teils auf Blogging-Plattform liegen)?

(3) Inhalts-/Textanalysen bzw. allgemeines Belegen von Quellen: Können wir Einträge oder Kommentare aus Weblogs, Fotos von Flickr, Videos von YouTube ohne Weiteres in Artikeln und Vorträgen zitieren, oder brauchen wir dazu eine Einwilligung der Autor/innen? Wie ist es mit Screenshots von Profilseiten auf studiVZ oder XING? Selbst wenn wir es mit dem Profilinhaber abklären – darf der Screenshot auch die Bilder von dessen Kontakten beinhalten, oder müssen wir die auch alle um Erlaubnis fragen?

(4) …..

Weitere Beispiele sind denkbar, und ich würde (s.u.) gerne versuchen, einige weitere solcher potenziellen Konfliktfälle zu sammeln. Bislang habe ich auch nur Fragen aus dem Bereich der akademischen Online-Forschung geschildert, weil das mein Background ist. Im Bereich der kommerziellen Onlineforschung stellen sich vermutlich ähnliche Fragen, möglicherweise aber auch noch ganz neue. Da sich die DGOF ausdrücklich als Vertreter beide Aspekte der Onlineforschung versteht, wäre es toll, auch aus diesem Bereich Input und Mitarbeit zu bekommen.

Der Austausch über die angerissenen Fragen kann m.E. eine ganze Reihe von Ergebnissen haben:

  1. Ganz generell das Bewusstsein dafür schaffen und schärfen, welche Verschiebungen im Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre derzeit stattfinden, und wie wir uns als professionelle Sozialforscher (ob akademisch oder kommerziell) dazu verhalten.
  2. Eine Reihe von ethischen Richtlinien formulieren, die „good practice“ der Sozialforschung im Web 2.0 darstellen.
  3. Diese Richtlinien zu einem Standard machen, der analog zu den „Standards zur Qualitätssicherung für Online-Befragungen“ formal festgehalten und von der DGOF verabschiedet wird.
  4. Davon ausgehend auch die anderen Verbände der Markt- und Sozialforschung sowie ggfs. andere einschlägige Vereinigungen mit ins Boot holen.

Selbst wenn nicht alle dieser Ergebnisse erzielt werden, lohnt sich die Beschäftigung mit dem Thema. Ich würde alle diejenigen, die Interesse an der Mitarbeit haben, in einem ersten Schritt um Rückmeldungen per Kommentar oder persönlicher Mail an mich bitten. Für die eingehendere Diskussion brauchen wir m.E. einen anderen Ort – je nach Resonanz könnte dies eine gesonderte Mailingliste, ein Forum, ggfs. auch ein Wiki sein.

Ich würde den Kreis der Diskutanten auch nicht auf DGOF-Mitglieder oder GIR-L-Abonnenten beschränken wollen, sondern fände es im Gegenteil sehr hilfreich, gerade zu Beginn möglichst offen, d.h. auch in anderen Blogs, Mailinglisten, o.ä. zu diskutieren. Sobald es dann formaler wird, also bspw. die DGOF eine Richtlinie verabschiedet, würden dann auch formale Mitgliedschaftskriterien wieder greifen. Auch der Ablauf der Diskussion wäre im Kreis der Interessierten noch näher zu klären; im Moment denke ich an unterschiedliche Phasen (Sammlung von potentiellen Konfliktfällen bzw. Forschungssituationen mit Klärungsbedarf; Sammlung von bisherigen best-practice-Lösungen im Umgang mit solchen Problemen; Formulieren und Abwägen möglicher Richtlinien; Entwurf eines formalen Dokuments, …), aber das ist noch völlig offen für andere Vorschläge.

16 Kommentare

  1. Jan, das ist eine sehr gute Initiative. Besonders der vierte Punkt – also die Einbeziehung anderer Verbände der Markt(!!!)- und Sozialforschung erscheint mir wichtig. Wenn ich es richtig sehe, beginnen entsprechende Unternehmen z.B. die Bedeutung von Netzwerkanalysen & Co. zu erkennen (das gilt auch für meine Disziplin, die PR). Doch geht es hier nicht um neutrale Forschung, sondern kommerzielle Interessen, beispielsweise, um potenzielle Multiplikatoren zu identifizieren.

    Im Moment bin ich unschlüssig, ob es besser wäre, wenn die Forschungscommunity voran ginge und einige Leitplanken aufbaut, oder ob von vornherein der Dialog gesucht werden sollte.

  2. Author

    Thomas, die DGOF arbeitet ja eng mit den anderen Verbänden der Markt- und Sozialforschung (ADM, BVM und ASI) zusammen, d.h. hier wäre der Kontakt bereits gegeben. Es wird letztlich sicherlich darauf ankommen, inwieweit die Richtlinien auch von diesen Organisationen übernommen, ggfs. auch angepasst würden; das muss man im weiteren Verlauf sehen.
    Was ich sehr schön finde: Bisher haben sich schon eine ganze Reihe von Interessenten mit unterschiedlichen Backgrounds gemeldet. Ich denke, dass es eine recht fruchtbare Diskussion werden wird.

  3. Stimmt, die Vernetzung der DGOF ist mir nach dem Abschicken des Kommentars auch bewusst geworden. Bin gespannt, wie die Diskussion verläuft, Deine Beispiele für Problemfelder sind sehr gut.

  4. Ich halte die aufgeworfenen Fragen auch für sehr wichtig. Relevant sind sie allerdings nicht nur für die Online-Forschung, sondern in gleichem Maße auch für die Journalismusforschung und Journalistenausbildung. Bei meinen Aktivitäten am Dortmunder Institut für Journalistik sehe ich mich immer wieder mit Konfliktfällen konfrontiert, die den geschilderten gleichen. Zentral sind dabei Fragen wie: Welche berufsethischen Leitlinien gelten für eine journalistische Recherche im Social Web? Dürfen Inhalte aus Blogs, Foren und anderen Plattformen ohne Rücksprache mit den Urhebern in einem journalistischen Kontext zitiert werden? Ist eine Undercover-Recherche in (halböffentlichen) Netzwerk-Plattformen ethisch vertretbar? usw. Diese Fragen — das wird schnell deutlich — sind sehr eng mit dem oben skizzierten Programm verwoben. Einmal mehr werden damit die Gemeinsamkeiten von journalistischer Recherche und empirischer Sozialforschung offenbar, die unter anderem Bernd Klammer eindrucksvoll beschrieben hat (vgl. Bernd Klammer: Empirische Sozialforschung. Eine Einführung für Kommunikationswissenschaftler und Journalisten. Konstanz 2005).
    In meinen Augen wäre es daher wünschenswert, diese beiden Aktionsfelder auch in der angeregten Diskussion aufeinander zu beziehen. Beide Seite können nur davon profitieren.

  5. Author

    @Tobias: Wunderbar, das ist ein sehr wertvoller Hinweis – und ich nehme Dich gerne mit in die weitere Diskussion auf, die übrigens in den kommenden Tagen richtig starten sollte; im Moment klären wir noch, welche Werkzeuge für Austausch und Diskussion wir auf dem DGOF-Server installieren können.



  6. Im Namen von blogoscoop kann ich die hier aufgeworfenen Fragen und die damit verbundene Initiative nur begrüßen.

    Diese führt aus unserer Sicht nämlich auch zu der Frage, wie denn ein Social Network beschaffen sein muss, damit es einerseits die Privatsphäre seiner Mitglieder genügend schützt und andererseits aber den vielfältigen Informationsinteressen der Öffentlichkeit (etwa in Form der Sozialforschung) Rechnung tragen kann.






  7. Hallo,
    mir würde bei meiner derzeitigen Arbeit sehr helfen, zu wissen, ob bereits Richtlinien für beispielweise Community-Forschung existieren? Konkret arbeite ich an einem Fall, wo gerade die sexuelle Identität der Nutzer und vor allem deren Schutz eine wichtige Rolle spielt. Wie hat sich die Diskussion der Forscher-Community dahingehend entwickelt? Für einen Tipp wäre ich dankbar :-)
    Beste Grüße aus Erfurt,

    Nele Heise


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